Hallo,
Michael D. schrieb:
Jürgen schrieb: gibt es eine allgemeinverständliche Erklärung des Kollaps der Wellenfunktion?
Meines Wissens nicht. Es bleibt ein ungeklärtes Phänomen.
Arnold Neumaier schreibt in seiner Physik-FAQ:
Theoretische Physik-FAQ
"
S2k. Kollaps und offene Quantensysteme
Die Kopenhagen-Interpretation ist dem einzelnen System angemessen,
allerdings in einer Idealisierung, die den Messprozess als instantan
ansieht. Sie ist daher nur dann gültig, wenn die zeitliche Auflösung
nicht allzu hoch ist. Bei besserer Auflösung stellt sie nur noch eine
bequeme aber ungenaue Approximation dar.
Die Theorie, die den alten Kollaps modern präzisiert, wird weit
und breit unter dem Stichwort offene Quantensysteme diskutiert.
Ein modernes Buch dazu ist
HP Breuer, F Petruccione
The Theory of Open Quantum Systems
Oxford Univ. Press, Oxford 2002
Nach Approximation der Umgebung durch eine Gibbsverteilung
und Projektion auf die relevanten Variablen des Systems bleibt
ein dissipatives Quantensystem übrig, das im Mittel durch eine
Lindblad-Dynamik charakterisiert ist, und im Einzelnen durch einen
quanten-statistischen Prozess.
Zur Herleitung der Dynamik wird stets eine einzelne Umgebung
modelliert, nicht ein Ensemble von Umgebungen. Man schreibt dieser
einen (im Gesamtexperiment tatsächlich vorliegenden) Umgebung
einen wohldefinierten Gibbs-Zustand zu - eine relative grobe
Approximation, aber ausreichend zur Herleitung der Grundgleichungen.
(Die Koeffizienten werden sowieso an die Daten gefittet - vgl.
den FAQ-Beitrag ''Effektive quantenmechanische Modelle'', also kommt
es nicht auf ein quantitatives Übereinstimmen der Herleitung an.)
Die Umgebung ist z.B. das einzelne Halbleiterplättchen, auf dem
der Quantendot präpariert ist. Man braucht zur Herleitung der
dissipativen Dynamik des Quantendots den Zustand des einzelnen
Halbleiterplättchens.
(In der statistischen Interpretation von Ballentine
braucht man dagegen ein Ensemble von ähnlich präparierten
Halbleiterplättchen, um die Modellierung des Systems aus
Quantendots und Halbleiterplättchen zu interpretieren.
Man macht die Versuche aber nicht mit einem Ensemble von
Halbleiterplättchen, sondern nur mit einem präparierten
solchen - und ist trotzdem erfolgreich.
Offenbar ist das Ensemble von ähnlich präparierten
Halbleiterplättchen irrelevanter Ballast, der von Ballentine's
Definition erzwungen wird, mit Occam's Rasiermesser aber
besser weggelassen wird.)
Der alten Einteilung der Kopenhageninterpretation in Quanten- und
klassische Welt entspricht in der modernen Theorie offener
Quantensysteme die Einteilung in System und Umgebung. Inhaltlich ist
es genau dasselbe. In der Umgebung werden nämlich nur noch klassische
(nämlich makroskopische, thermodynamische) Variable modelliert.
Dieser Einteilung haftet eine gewisse Willkür an, sowohl in der alten
als auch in der modernen Form. Denn in der Natur gibt es keine
abgegrenzten Systeme, nur die Natur als Ganzes. Es ist also Sache des
Physikers, der ein Problem analysiert, wie er das Quantensystem
abgrenzt. Normalerweise wird die Abgrenzung so vorgenommen, das das
System analysierbar bleibt und die Genauigkeit für den Vergleich mit
dem Experiment noch ausreicht. Diese Willkür ist also dem Problem
angemessen und nichts Fragwürdiges.
Der Fortschritt der modernen Theorie offener Systeme gegenüber der
einfachen Kopenhagen-Betrachtungsweise besteht darin, dass man
quantitative und zeitlich aufgelöste Details versteht,
wo vorher nur Grundzüge verstanden waren, und dass man das größere
System als Quantensystem behandeln kann, ohne den Formalismus wechseln
zu müssen. Man braucht also die klassische Welt nicht separat
vorauszusetzen (aber dieser Teil geht schon auf von Neumann 1932
zurück).
Aber das Klassische wird dafür in die Approximationsmethode
hineingesteckt. Wenn man ein System über einen Gibbszustand modelliert,
ist das äquivalent dazu, nur die klassischen thermodynamischen
Variablen für relevant zu erklären. Dann liefert der traditionelle
Ansatz die Gibbsverteilung.
(Aus der Sicht von Interpretationen, die den Zustand als
Quintessenz der Information eines Beobachters über ein System
auffassen, liegt hier ein Zirkelschluss vor: Der Beobachter steckt
sein Wissen darum, dass die Umgebung im wesentlichen durch wenige
klassische Variablen charakterisiert ist, in die Modellierung hinein,
findet mittels dem Maximum-Entropie-Prinzip, dass sein Wissen einem
Gibbs-Ensemble entspricht, und findet dann durch eine Analyse der
mit diesem Ansatz für die Umgebung reduzierten Dynamik für das
Teilsystem die ''emergence of a classical world'' für das reduzierte
offene Quantensystem. Aus der angenommenen Klassizität folgt also
die Klassizität....)
Unter Voraussetzungen, die ungefähr einer von-Neumann-Messung
entsprechend (ungefähr, weil von-Neumann-Messungen idealisiert sind
und nur in einem Limes existieren), ergibt sich eine Dynamik, in der
aus einem gemischten Zustand im Grenzwert t--> unendlich ein
reiner Zustand wird, der ein Eigenvektor des gemessenen Operators
ist. Welcher, ist allerdings nur stochastisch bestimmt; die
Lindblad-Dynamik ergibt Konvergenz gegen eine diagonale Dichtematrix.
Da die Konvergenzrate sehr hoch ist, ist in vielen praktischen Fällen
die Zeit, die zur Konvergenz nötig ist, extrem kurz, so dass man
quasi einen instantanen Kollaps bekommt.
Im Limes unauflösbar kurzer Messzeiten ergibt sich _genau_ der alte
Kollaps. Ebenso wie man für kleine Geschwindigkeiten
nichtrelativistisch rechnen darf, darf man bei großen Zeiten
Quantensprünge als instantan annehmen, auch wenn sie es exakt nie
sind.
Wer das nicht als Gültigkeitsbeweis des Kollapses im
Grenzfall geringer zeitlicher Auflösung anerkennt, dürfte
keinerlei historische Kontinuität bei Begriffen in der Physik
unterstellen, wenn sich die Theorien verbessern. Man kann es Bohr,
Heisenberg und von Neumann nicht verübeln, dass sie bei den
damalig üblichen Auflösungen den dissipativen Messprozess als
idealisierten Kollaps modellierten und nicht, wie es heute geschieht,
als zeitlich aufgelöste dissipative Dynamik.
Für den experimentellen Nachweis von Quantensprüngen siehe etwa
RG Hulet, DJ Wineland, JC Bergquist, WM Itano
Precise test of quantum jump theory
Phys. Rev. A 37, 4544 - 4547 (1988)
oder
N Gisin, PL Knight, IC Percival, RC Thompson, and DC Wilson
Quantum State Diffusion Theory and a Quantum Jump Experiment
Journal of Modern Optics 40, 1663 (1993)
oder der überblicksartikel
MB Plenio, PL Knight
The quantum-jump approach to dissipative dynamics in quantum optics
Rev. Mod. Phys. 70, 101 - 144 (1998);
Unsere Diskussion ergibt also:
1. Kopenhagen's Kollaps ist ein Grenzfall der modernen Sicht
und kann durchaus (im Grenzfall) aufrechterhalten werden.
2. Die Tatsache, dass große Systeme einmalig sind und trotzdem
einen wohldefinierten, objektiven Zustand haben, muss vorausgesetzt
werden, damit die modernen Herleitungen des Verhaltens makroskopisch
großer (offener) Systeme stichhaltig sind. Notwendig ist, dass einer
einzelnen Umgebung (d.h. in letzter Konsequenz dem Universum mit
Ausnahme des Systems) ein wohldefinierter Zustand zugeschrieben
werden kann, der nicht über Ensembles charakterisierbar ist.
3. Die moderne Verwendung der Quantenmechanik erfordert also zwingend,
dass jedem System ein (gemischter, zeitlich veränderlicher)
quantenmechanischer Zustand zugeordnet ist, der alle objektiv
vorhersagbaren Aspekte seines Verhaltens beschreibt.
3. In Ballentines statistischen Interpretation kann man aber nur
Aussagen machen über Ensembles von Umgebungen, nicht über die
einzelne, in einem Ein-Atom-Experiment konkret vorliegende Umgebung.
Dies wird dem praktischen Gebrauch der Quantenmechanik in
Ein-Atom-Experimenten nicht gerecht. Daher ist die statistische
Interpretation zumindest in Ballentines Version von 1970 überholt."
MfG
Lothar W.